Auf dem Siegeszuge
von Berlin nach Paris
Schlachtenbilder und biographische Silhouetten
Karl August Gottfried Pietschker
Ed. Postdam & Leipzig 1895 |
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Blamont.
Blamont, 14. August. [1870]
Nach einem heißen und langweiligen Marsch sind wir à grande
vitesse hier in dem reinlichen Städtchen Blamont, früher
Blankenburg geheißen, gegen Mittag angelangt, fanden aber auch
hier schon sämmtliche Kaufläden und öffentliche Lokale
geschlossen und die zurückgebliebene Bevölkerung in einer sehr
gereizten und widerwilligen Stimmung. Merkte man schon in
Saarburg, daß man sich auf der Grenze des deutschen und
französischen Wesens befand, so sieht hier Alles schon ächt
französisch aus. Die Dörfer am Wege haben nicht mehr das
malerisch-gemüthliche Aussehen, wie jenseits der Vogesen, sie
haben vielmehr jenen nüchternen uniformen Anstrich, der allen
französischen Ortschaften von einigem Wohlstand eigen ist. Nach
dem ersten Eindruck glaubt man sich in einer kleinen Stadt zu
befinden. Die zwei- und dreistöckigen Häuser stehen, ohne
Unterbrechung durch grüne Gärten, nebeneinander, die Dächer sind
schon auffallend flach und alle Wohnungen mit Jalousien versehen.
Die hellen, meist aus Sandsteinbauten bestehenden Gassen nehmen
sich zwar viel sauberer und freundlicher aus, aber bei alledem
fühlt sich unsereins nicht recht wohl in solchen Dörfern, die
oft recht prahlerisch eine Mairie hingestellt haben, die sich
mit manchem städtischen Rathhaus bei uns daheim messen könnte.
Die Einwohner haben nicht mehr die frischen, freundlichen Züge
des Elsasses. Es stehen zwar auch hier an allen Ecken und vor
den Häusern Gruppen von Neugierigen; aber diese faulenzenden
Blousenmänner mit ihren fahlen Absynthgesichtern, ihren
schwarzen Knebelbärten und wüthenden Blicken machen keinen
angenehmen Eindruck, und so manches Mal zuckt Einem die Faust,
einem solchen frech-herausfordernden Buben, mit den Händen in
den weiten Hosen, einen tüchtigen Denkzettel zu geben. Und
bittet man diese Bande um einen Schluck Wasser, so heißt es wie
auf Kommando: rien du tout, monsieur, rien du tout! - wobei aber
die Kinder zugleich die Hände hinhalten und im selben Tonfall
bettelnd rufen: un sou, monsieur, un sou!
Die Chausseen sind zwar alle gut gepflegt, aber diese
schnurgeraden, unsäglich langweiligen Pappellinien machen mich
immer ganz mißmuthig, zumal wenn diese steifen Pappeln nach ächt
französischer Weise noch zurecht gestutzt und unten aller Zweige
beraubt sind. So manchmal blickten wir deshalb sehnsüchtig nach
rückwärts, wo die Berge der Vogesen im zarten Duft der Ferne vor
uns ausgebreitet lagen. - Doch es heißt „vorwärts", immer die
Pappelstraße entlang, welche mit ihrer Gluthhitze und ihrem
Staube Alles ausdörrt.
Auch der Kronprinz scheint die staubige Landstraße gründlich
satt zu haben, denn er sprengt heute querfeldein, um möglichst
jede Ecke abzuschneiden und bald nach dem Städtchen zu gelangen,
welches uns schon mit seiner malerischen Ruine und seinen hellen
Häusern aus der Ferne entgegen lacht.
Und doch, wie gut haben wir es, wenn wir uns mit den
marschierenden Infanterie-Kolonnen vergleichen, die wie eine
dunkle, oben glitzernde Schlange in dem Staube der Heerstraße
eng gedrängt und in endloser Reihe sich heranschieben. Seit 4
1/2 Uhr sind die meisten Bataillone auf den Beinen; - um 9 Uhr
ist ein kurzes Rendezvous gewesen, in dem es aber nichts zur
Erfrischung gab. Die müden Mannschaften hatten die Gewehre
zusammengesetzt und sich ein wenig gestreckt, wobei der
Tornister gleich als Kopfkissen dient. Hie und da untersuchten
Einzelne trog ihrer Müdigkeit das Schuhwerk und legten Strümpfe
und Fußlappen glatt, um sich nachher noch weiter schon schleppen
zu können. Doch da ertönt wieder das scharfe Kommando: „An die
Gewehre, - Gewehr in die Hand, - Gewehr über! Bataillon Marsch!"
Wieder geht es auf endloser Pappel-Chaussee in endloser Kolonne
weiter und weiter, immer „wärtser und wärtser." Die Sonne ist
immer höher gestiegen und sendet ihre Strahlen fast senkrecht
hernieder. Da der Kronprinz mit seinem Stabe schon vorhin
vorüber gesprengt ist, so suchen einzelne menschenfreundliche
Kommandeure ihren Leuten den Marsch dadurch zu er leichtern, daß
sie die Züge etwas auseinander ziehen lassen. Wie eine Erlösung
kommt die Erlaubniß, daß der Kragen vorne geöffnet und die
Halsbinde gelockert werden kann. Bei diesem unerträglichem
Staub, der in dicken Wolken aufwirbelt und sich über die Kolonne
lagert und bei der völligen Leere der Feldflaschen ist aller
Gesang verstummt; selbst den sonst unverwüstlichen Witzbolden
der einzelnen Kompagnien scheint durch die heiße Sonne der
Verstand mit sammt der Zunge eingetrocknet zu sein. Ein Major
ruft seinem Bataillon zu: „Aber Leute, laßt doch nicht die Köpfe
hängen! - Singt uns doch eins! Macht's Euch bequem: Die Kniee
etwas krumm und die Schritte etwas länger, und dann angestimmt!"
Einzelne versuchen's und fangen an:
Bin ein lust'ger Grenadier,
Jubheidi, jubheida;
Niemals meinen Muth verlier,
Jubheidi, heida.
Diene meinem König treu
Und dem Mädel auch dabei,
:Jubheidi, jubheida,
Jubheidi heidallala!
Unser Hauptmann der ist gut,
Jubheidi, jubheida,
Wenn man seinen Willen thut,
Jubheidi, heida!
Hat man aber 'was verbrochen,
Wird man in das Loch gestochen
aber bald verstummt Alles wieder; der Staub ist zu dick und
trocknet selbst den sangesfrohen Thüringern, die soeben
vorüberzogen, die Kehle aus. Kein erfrischendes Lüftchen fächelt
Kühlung zu, kein Baumschatten wehrt der sengenden, ausdörrenden
Gluth der Sonnenstrahlen. - Der Helm wird dann und wann gelüftet,
Taschentücher oder größere Blätter auf den Kopf gelegt,
Strohhalme oder Kirschkerne in den heißen Mund genommen;
abwechselnd lüften die Hände hinten den Affen, der fest am
durchnäßten Rücken klebt. Gleichgültig, ohne jedes Interesse für
die durchwanderte Gegend, über welcher die brütende Mittagssonne
flimmert, marschieren die Mannschaften dahin; starr, fast
stumpfsinnig, blickt man auf den Tornister oder Helm des
Vordermannes und seht mechanisch einen Fuß vor den anderen. Nur
wenn ein aufmerksamer Offizier oder ein zählender Flügelmann
eine neue Nummer der durchmessenen Kilometer ausruft, dann
fliegt ein leises Lächeln über die matten, von Staub und Schweiß
bedeckten Züge.
Wie leicht wandert es sich bei Landpartien 12-20 Kilometer dahin,
und wie bitter-sauer sind solche 25-30 Kilometer in heißer,
staubiger Marsch-Kolonne, in enger Uniform und mit dem Gepäck
auf Rücken und Schulter. Immer größer wird die Zahl der
Erschöpften, die nach Aufbietung der letzten Kraft
zusammenbrechen und von ihren Kameraden an den Straßenrand
gelegt werden, damit wir Johanniter nachher uns ihrer annehmen.
Der graue Staub legt sich wie ein erstickender Mehlthau über
Alles, über Menschen, Thiere, Waffen und Pontons, über die Bäume
und Sträucher des Weges; - kaum können die Mannschaften noch
Lippen und Augen öffnen vor dieser dicken Staubkruste.
Noch einmal wird zu einem Rendezvous Halt gemacht, da bis zum
ersehnten Ziel noch 4 Kilometer zu machen seien und im nahen
Blamont der Kronprinz diese und alle folgenden Abtheilungen des
XI. und V. Korps im Vorbeimarsch inspiciren wolle. Die
Bataillone biegen nach links ab auf einen größeren Wiesen- und
Ackerplan. Da wo die Mannschaften eben gehen und stehen, legen
sie sich sogleich nieder, unbekümmert um die brennende,
stechende Sonnengluth. Selbst die Offiziere, die sich am
trockenen Chausseegraben niedersehen, sind schweigsam und ganz
apathisch; aus Rücksicht auf die tiefe Erschöpfung wagt keiner
derselben seinen Burschen heranzurufen; lieber stäuben sie sich
selber nothdürftig ab. Wenn so große Strapazen zu ertragen sind,
bedarf der marschirende Soldat jede Minute der ihm gelassenen
Ruhezeit zu seiner leiblichen Erholung, und man darf sie ihm
durch nichts verkürzen. - Doch kaum ist die Kavallerie und Korps-Artillerie
vorüber und als eine große Staubwolke davon gezogen, da heißt's
schon wieder: „An die Gewehre! Gewehr in die Hand!".
Mit Sehnsucht blickt Alles nach der schmucken Stadt da vorn und
wünscht sich, dort schon in's Quartier zu kommen; doch daran ist
nicht zu denken, denn nur ein Bataillon 58er, heißt es, bleibt
als Stabswache zurück, die übrigen marschiren noch 3-4 Kilometer
weiter. - Die steif gewordenen Glieder sind nach fünfzig Schritt
wieder geschmeidig, und selbst die wunden, durchgescheuerten
Füße suchen wieder fester aufzutreten.
„Angeschlossen, - Tritt gefaßt, - Augen links!" beim ersten
Bataillon beginnt die Regimentsmusik, unsere Trommler und
Querpfeifer sehen auch mit ihrem „He, Mutter, die Landwehr kommt,
die Landwehr kommt" nach Kräften ein; alle Leute, selbst die
schlappesten, bemühen sich stramm, wie es preußischen Soldaten
ziemt, zu marschiren und freuen sich schon des Augenblicks, wo
das musternde Königsauge des geliebten Kronprinzen auf ihnen
ruhen wird. Die Haltung der Mannschaften wird unwillkürlich
stolzer und strammer, und selbst schüchterne Versuche zum
Durchdrücken der Kniee und Strecken der Fußspitzen werden wieder
gemacht. Aber bald sind die stillen Straßen der Stadt durchzogen,
ohne daß der Höchstkommandirende gesehen wurde; nur einige
Stabsoffiziere, die nach der entlegenen Wohnung Sr. Königl.
Hoheit eilten, und in allen Straßen gaffende Blousenmänner kamen
den Mannschaften zu Gesicht. Die Musik schien aber alle
Erschöpfung vertrieben zu haben; und während die Truppen festen
Schrittes und strammer Haltung weiterziehen, suchen wir unser
angewiesenes Quartier auf, voller Freude, endlich der
Mittagshize - es war mittlerweile fast 1 Uhr geworden, -
entfliehen und einen schattigen Winkel aufsuchen zu können.
Wir bekamen Privatquartier, „aber fragt mich nur nicht wie?!"
Erst nach einer Scene und einem tüchtigen Säbelhieb auf den
Tisch wird uns 6 Mann von dem großen dreistöckigen Hause mit
stattlichen Hintergebäuden ein kleines Zimmer mit Strohlager
eingeräumt und eine Suppe bereitet, die man dem reichen, aber
schmutzig geizigen Wirth gleich über den Kopf hätte gießen mögen.
Mit gespreizten Füßen stand der auffallend große Hausherr in der
Thür, dankte nicht auf unsern freundlichen Gruß und machte uns
erst Platz zum Eintreten, als mein Flügelmann studios. Seiffert
mit einem kräftigen pommerschen Stoß ihn zur Seite geschoben und
handgreiflich bewiesen hatte: „Bescheidenheit ist eine Zier,
doch weiter kommt man ohne ihr." Statt der apostolischen „Gastfreundschaft
ohne Murmeln" hatten wir eine solche mit Murmeln, schließlich
sogar mit Schimpfworten. Das war uns aber doch zu toll! - Ich
wies die Mutter unseres Wirthes, ein altes, krummes Weib mit
giftigen Augen, zu unserm Zimmer hinaus, als sie plötzlich
angefangen hatte, auf deutsch zu schimpfen und zu fluchen, hieb
mit der flachen Klinge auf den Tisch und erklärte, wenn nicht
binnen einer Stunde irgend etwas Warmes uns zu essen gegeben sei,
so würde ich den Feldgensdarmen herbeirufen und uns überdies in
diesem großen Hause bequeme Zimmer mit Betten aussuchen. Das
half.
Auf jede, auch die bescheidenste Bitte heißt's aber immer wieder,
daß nichts mehr vorhanden ist und daß unsere Soldaten Alles,
selbst die Bett- und Tischwäsche, genommen hätten. Wenn nur die
Hälfte von dem wahr wäre, was die Leute mit vielen Phrasen und
Lamentationen behaupten, so müßte jeder Soldat außer seinem mit
vorschriftsmäßigen Sachen gefüllten Tornister und Brotbeutel
noch einen Gepäckwagen extra haben. Man sucht mit diesen stehend
gewordenen Lügen Alles zu entschuldigen. Frägt man, weshalb sie
kein Tischtuch aufdecken, so heißt es: Die Soldaten, ihre
Kameraden, haben Alles genommen; beklagt man sich über bie
schmutzige Gabel, die schon mehr Mistgabel gewesen zu sein
scheint, so heißt's: vos camerades nous ont pris tous les objets
d'argent. Der Wein ist natürlich auch ausgetrunken und
mitgenommen; - kurz, diese Bande giebt nichts und lügt wie
gedruckt. Müßte man nicht gewisse Rücksichten aufs Hauptquartier
und den fast zu milde gesinnten Kronprinzen nehmen, so würde man
dieser Lügenbrut einmal gründlich den Mund stopfen und durch
eine Ocular-Visitation beweisen, daß sie alles Eßbare in großen
Massen versteckt hat. Verdient hätten diese Leute eine solche
Behandlung und Demonstrirung ad oculos schon längst.
Da die Proviant-Kolonne sich noch nicht sehen ließ, so gingen
wir in die Stadt, um Einkäufe zu besorgen; aber überall dasselbe
Schauspiel einer grabähnlichen Stille und Abgeschlossenheit, nur
sehr selten ein geöffneter Laden. Natürlich auch hier wieder
rien du tout, du tout, du tout. Troß unserer Angebote konnten
wir nichts bekommen, sodaß sich unserer eine große Verstimmung
bemächtigte und wir oftmals die Frage ventilirten, ob wohl diese
übergroße Rücksichtnahme des edlen Kronprinzen diesem
verbissenen Volke gegenüber angebracht sei; - und ob wohl die
Franzosen, wenn sie zu uns gekommen wären, so rücksichtsvoll
sich würden benommen haben?! Wir wollen ja Alles bezahlen und
uns mit einem Strohlager in überdecktem Raum begnügen; - wenn
diese Leute uns nur ein Bischen entgegen kommen und die
primitivsten Pflichten der Wirthsleute erfüllen wollten!
Und nun versetze man sich in die Lage und die Empfindungen
unserer armen Soldaten, wenn sie müde und hungrig nach langen,
beschwerlichen Märschen ins Quartier kommen, und dann auf solche
widerhaarige Gesinnung und Verbissenheit stoßen. Wenn sie für
Geld und gute Worte weder Speise und Trank, noch sonstige
Lebensutensilien erhalten können, wenn ihnen die Bevölkerung des
besiegten Landes, wie hier, geradezu provocirend entgegen tritt;
ist es dann ein Wunder, wenn auch sie unmuthig werden und wenn
z. B. unsere Polacken vom tapfern 58. Regiment mit allen
möglichen Mitteln zu requiriren beginnen?! - Später, an der
Loire, wurde das anders. Nicht blos die Bayern, die „hellblauen
Teufel", wie sie von den Franzosen genannt wurden, sondern auch
unsere Leute von der 22. und der 17. Division kauften damals
einfach für fünf Sous", und wenn da irgend ein mürrischer
Widerstand sich zeigte, so gab es noch „fünf zu". Aber, das
betone ich noch einmal, man verseke sich in die Lage dieser
armen Leute, die bei Regen und Schnee oder Frost 8-10 Stunden
marschirt und gekämpft hatten und zum folgenden neuen Marsch-
und Kampftage sich stärken sollten, und die dann beim Eintritt
ins Quartier mit dem stereotypen ,,nix du pain, nix du vin"
empfangen wurden. Der Magen machte sein Recht geltend und der
Kampf ums Dasein zwang, etwas kategorisch aufzutreten und den
Begriff requiriren etwas weit zu fassen. Warum auch nicht!? -
machten es doch die französischen Truppen ihren eigenen
Landsleuten gegenüber viel schlimmer.
Da es heute Sonntag ist, lockte mich das Geläut der Abendglocken
bald zu der schönen Mauritiuskirche, welcher die andächtige
Menge zuströmte. Die schöne, im reinsten gothischen Style
ausgeführte Kirche muß jeden Freund derartiger Bauten durch die
Consequenz, mit welcher der Baumeister Alles, bis in die
kleinsten Details im Innern, wie im Aeußern, streng stylgerecht
durchgeführt hat, entzücken.
Meine Freude über das Werk wurde aber bald verdorben, indem nach
Beendigung des Gesanges plötzlich ein echtes Jesuiten-Gesicht
auf der Kanzel erschien und nun mit französischer Lebhaftigkeit
und einem Aufwand aller möglichen theatralischen Effekte gegen
den Feind losdonnerte, der „von Norden her in das Land Juda, dem
Kodesch-Jehovah gewaltsam hereinbricht." Da ich infolge meines
vorjährigen Studien-Aufenthaltes in Genf die Terminologie der
französischen Kanzelberedsamkeit so ziemlich inne hatte, so
verstand ich, trotz der staunenswerthen Zungenfertigkeit des
Pfaffen, alle seine Ausführungen. Ich war empört. über diese
Dreistigkeit, welche selbst mitten in der Gewalt unserer Heere,
inmitten unseres derzeitigen Hauptquartiers, ja. sogar in
Gegenwart einiger andächtig betenden Polacken vom. 58. Regiment
uns an heiliger Stätte zu verhöhnen und den Protestantismus der
„Leute von Norden her" zu schmähen wagte. Ich beschloß ihn zu
züchtigen, und that dies, indem ich nach Art der Fremden in
katholischen Domen durch das Seitenschiff der Kirche hinauf ging
und mich dicht vor die Kanzel stellte. Als nun das Pfäfflein bei
einer hoch-pathetischen Pause plötzlich meiner ansichtig wurde
und aus meinen wüthenden Blicken wohl lesen mochte, daß ihn die
„Männer von Norden: her" verstanden hatten, fuhr er vor Schreck
zusammen. Er stotterte, suchte mit Mühe nach Worten und ward
über und über roth im Gesicht; - kurz, er war aus dem
Zusammenhang, oder wagte sich nicht mit den Phrasen und weiteren
Beleidigungen heraus, welche er zu Haus vorbereitet hatte. Die
ganze Scene wurde etwas peinlich, und da hierdurch die Andacht
der Anwesenden gestört werden konnte, so zog ich mich mit
Rücksicht auf die heilige Stätte wieder zurück, machte mir aber
nach. Beendigung des Gottesdienstes den Spaß, mich mit mehreren
Kameraden an dem Neben-Ausgang der Kirche auszustellen und so
den zitternden Pfaffen, diesen sonderbaren Diener der Religion
der Liebe, mit seinen beiden Begleitern Revue passieren zu
lassen.
Dieser Ausbruch des Fanatismus an heiliger Stätte ließ uns mit
tiefer Trauer erkennen, daß unter dem zweiten Kaiserreich, und
speciell unter der bigotten Kaiserin Eugenie und ihren
jesuitischen Beichtvätern, der Protestantismus genau so
verlästert und verfolgt werden darf, wie zur Zeit der
bourbonischen Heinriche und Ludwige. Es giebt nichts
Herzzerreißenderers, als die Geschichte des französischen
Protestantismus, - eine Geschichte voll des erhabensten
Heroismus, der rührendsten Glaubenstreue und der entsetzlichsten
Schmerzen. In einem fast dreißig Jahre hindurch immer neu
auflodernden Bürgerfriege werden die Protestanten niedergeworfen;
in den Schreckensnächten der Bluthochzeit fallen die edelsten
Söhne Frankreichs, diejenigen, auf welche man, wie auf Coligny,
heute hinweist als auf Typen alles des Großen und Hochherzigen,
was im französischen Charakter liegen kann. Zu Mördern werden an
diesen frommen Helden jene schwachen, ausschweifenden Könige,
die zu Müttern und Gattinnen grausame, intriguante
Italienerinnen haben; und endlich ersteht als furchtbarster
Gegner jener Richelieu, in dem der römische Kardinal und der
französische Staatsmann zusammenwirken, um eine Staatsraison zu
finden, welche dann unter Ludwig XIV. die ruchlose Hand zum
Todesstoße gegen den Protestantismus erhob, - einem Könige, der
sein sündenvolles Leben, auf Anrathen seines Beichtvaters,
dadurch zu sühnen glaubte, daß er seine hugenottischen
Unterthanen, die treuesten und fleißigsten, die er hatte, der
ganzen Wuth und Rohheit des römischen Fanatismus preisgab.
Während England, Holland und besonders Norddeutschland, die
brandenburgisch-preußischen Herrscher voran, durch Aufnahme
dieser über die Grenze entkommenen Hugenottten einen reichen,
noch heute im Volksgeist und Industrie einzelner Städte (Berlin,
Potsdam, Frankfurt, Hanau, Neuwied, Leipzig, Emden u. A.) zu
spürenden Segen empfingen, folgte für die in Frankreich mit
Zwang zurückgehaltenen Protestanten die hundertjährige
Geschichte der „Gemeinde in der Wüste,“ der verfolgten Prediger,
die nicht selten am Galgen starben, jener Opfer, die wegen einer
in ihrem Besitz gefundenen Bibel als Sklaven auf den Galeeren
angeschmiedet wurden, deren geraubte Kinder ihr Elend in den
Klöstern ausseufzten, - die in aller Form Rechtens begangenen
Morde bis herab auf den ehrwürdigen Calas, den es ist noch nicht
viel über hundert Jahre her, - der wilde Glaubenshaß auf's Rad
flocht. Es thut wehe, sehr wehe, all dieses Jammers, dieser
Fluth bitterer Thränen, dieser gebrochenen Glieder und Herzen
auch nur flüchtig zu gedenken. Aber es gehört das vollständig
zur Sache. Denn jener Zug grausamer Bestialität, der im
französischen Volkscharakter liegt, diejenigen Eigenschaften,
von denen die deutsche Pfalz vor zweihundert Jahren so
schreckliche Proben sah: sie haben ihre Brutstätte und Schule
gefunden in jener altgewohnten, den hugenottischen Mitbürgern
gegenüber beliebten Mord-Praxis. Fast jedes Blatt in der
Geschichte Frankreichs, so schrieb Holzmann vor Kurzem, von der
Reformation bis auf die Revolution ist mit Blut besudelt,
vergossen nicht etwa blos von dem blinden Fanatismus der
bigotten Menge, die sich dabei einfach nur dem Geiste ihrer
kirchlichen Leiter überließ, nein - ebenso oft auch von der
kalten Hand jener verbrecherischen Staatskunst, deren bewußt
fest gehaltenes Ziel es war, Frankreich groß und stolz zu machen
auf Kosten der Gewissensfreiheit und der religiösen Wahrheit. Ja,
diese Staatskunst hat Früchte getragen, - Früchte, von denen wir
uns mit Entsetzen abwenden. Es steckt heute noch vielen
Franzosen der Trieb im Blute, im Protestanten als solchen,
gehöre er nun der eigenen oder einer fremden Nationalität an,
den geborenen politischen Feind zu sehen, dem gegegenüber Alles
erlaubt ist. Man braucht nicht an das Monate hindurch währende
Schreckenssystem zu erinnern, welchem 1815 die Protestanten zu
Nismes erlegen sind; in seiner Art liefert auch der jetzige
Krieg die Beweise hierfür mehr als genug.
Es lebt ja noch in Aller Erinnerung, wie der Figaro den „Krieg
gegen die Feinde Frankreichs nach Außen und im Innern“ predigte,
und wie die Bischöfe von Nismes und Angers in glühenden
Ansprachen den Kreuzzug gegen die deutschen Ketzer empfahlen; ja,
wie selbst Cardinal Donnet die Preußen beschuldigte, „dem
französischen Volke seine katholische Religion nehmen zu wollen."
Haben nicht Zeitungen, wie das Journal de Paris und der oben
genannte Figaro, offen alle Protestanten als geheime Verbündete
Preußens dem Volkshasse denuncirt?! Aller sonst zur Schau
getragenen Aufklärung zum Hohn, schrieb das Journal de Paris
Phrasen, wie folgende: „Nur mit Zittern könne die katholische
Vendée den französischen Boden durch die protestantischen
Preußen befleckt sehen!" Und wahrlich, die in der neueren
Völkergeschichte unerhörte Barbarei, womit das französische Volk
vor vier Wochen zahllose deutsche Familien ohne Schonung aus dem
Lande trieb, indem es dieselben zugleich alles dessen beraubte,
was sie durch jahrelangen Fleiß erworben hatten, - sie sieht
ganz aus wie eine würdige Fortsetzung der Aufhebung des Ediktes
von Nantes. Was man auch immer zum Lobe des französischen
Nationalcharakters sagen mag: Protestantenhaß,*)
Ketzerverachtung, bösartiger, leicht zum Aeußersten übergehender
Fanatismus ist demselben tief eingeimpft, und zwar wurzeln diese
Leidenschaften nicht minder in den politischen als in den
religiösen Instinkten der Nation; sie sind mit ihrem Bewußtsein,
die „grande nation" zu sein, unzertrennlich verwachsen. - Ist es
da ein Wunder, wenn solcher Haß und solcher Fanatismus selbst an
heiliger Stätte aus Priestermund in unserer Gegenwart gepredigt
wird?!
Die völlige Zersetzung des französischen Staatskörpers, wie sie
heutzutag, gleich nach den ersten Niederlagen des Kaiserreichs,
zu Tage tritt, zeigt in erschreckend klaren Schriftzügen, was
aus einem sonst so reich beanlagten Volke wird, dessen
religiöses Interesse und dessen Gewissen systematisch seiner
politischen Bedeutung und seinem nationalen Ehrgeiz geopfert
wird. Eine Hoffnung in Frankreich haben derzeit nur noch die
römischen Pfaffen. Denn jede Regierung, welche der Zukunft
sicher sein will, wird sich an dieser allein noch sicher und
fest gebliebenen Macht des geistlichen Despotismus in die Höhe
ranken müssen. Nicht weniger als 17 Verfassungen haben im Laufe
der letzten 80 Jahre in Frankreich mit einander gewechselt. Auf
dieser 17 stufigen Leiter sind Kaiser und Könige, Monarchien und
Republiken, Constituanten und Legislativen auf und abgerutscht:
folgerichtig in die Höhe gestiegen ist nur der Clerus, und, wie
die Dinge jetzt stehen, wo aus Napoleons Munde die verlogenste
aller Phrasen kam: „Meine Regierung, ich sage es mit Stolz, ist
vielleicht die einzige, welche die Religion um ihrer selbst
willen unterstützt hat", - da läßt sich mit ziemlicher
Sicherheit weissagen, daß das französische Volk unter allen
vielleicht noch bevorstehenden Wandlungen, aus dieser
todtbringenden Umarmung des Jesuitismus sich nie mehr wird
losringen können; es wird in ihr verbleiben. Nur der
Protestantismus hätte es retten können.
*) Ein Beispiel für viele: Ein elsaß-lothringischer
Geistlicher, der als protestantischer Feldprediger mit nach
Mexico geschickt war, mußte sich dort angesichts seiner
katholischen Collegen die verächtlichste Behandlung seitens des
kommandirenden Generals gefallen lassen. Der militairische
Instinkt der Armee und eines Bazaine hat es richtig
herausgefühlt, daß im zweiten Kaiserreich der Protestantismus
jedenfalls ein fremder und unnützer Artikel sei. |